Wie alles begann…

Ein Reisebericht der besonderen Art aus Indien im Januar 2008

Seit meine Freundin Inge vor nunmehr 20 Jahren nach Auroville in Südindien umsiedelt ist, besuche ich sie regelmäßig im Winter. Einen großen Teil der Zeit verbringe ich in Tiruvannamalai, einer kleinen Stadt am Fuße des heiligen Berges Arunachala, ca. 3 Taxistunden entfernt von Chennai (früher Madras), entfernt. Der Berg Arunachala ist seit Jahrhunderten ein Anziehungspunkt für Yogis, Sadhus (Männer, die dem weltlichen Leben entsagen und Gott suchen), erleuchteten Lehrern, die hier Ashrams (spirituelle Gemeinschaften) gegründet haben, um Yoga- und MeditationsschülerInnen (wie mir), einen leichteren Zugang zur Meditation in der starken Präsenz des Berges zu ermöglichen.  

 

Der Kulturschock, der nicht nur mich, sondern wahrscheinlich jeden trifft, der sich abseits der Touristenpfade in Indien bewegt, war das erste Mal für mich am schlimmsten. Man wird von den Eindrücken förmlich “erschlagen”: Farben, Gerüche, Hitze, Staub, Schmutz, Lärm, die Armut, das Gedränge, die BettlerInnen, die Enge auf den Straßen und Gehwegen, das Gewimmel und die Nähe von Hunden, Kühen, Ziegen und Fuhrwerken allen Arten. Dazwischen immer wieder Menschen in allen Formen, Farben, Zuständen und Kostümierungen, die mit fast allem beschäftigt sind, was sich bei uns hinter „Mauern“, im Innenbereich abspielt. Der Verstand kann diese Fülle von Eindrücken und deren Intensität und Ungeheuerlichkeit nicht fassen und verkrümelt sich ein wenig – vielleicht ist das der Grund, warum Meditation hier leichter fällt, als anderswo.

Jedes Jahr wurde ich Zeugin von mindestens einer erschütternden Frauengeschichte. Erst in diesem Jahr 2007 erkannte ich wie leidvoll das Leben einer indischen Frau ist, wenn sie Witwe wird. Ich erkannte den roten Faden, auf dem die leidvollen Geschichten der Frauen in Indien, wenn sie Witwen sind, wie Perlen aufgefädelt sind. Ich erkannte erstmals, dass es Menschen gibt, die in all dem offensichtlichen Elend und der Armut so vernachlässigt und rechtlos sind, dass sie nicht einmal einen sicheren Platz auf dem nackten Boden der Straße zum Schlafen haben. Sie müssen sich verstecken, um nicht sexuell missbraucht zu werden, gelten als unrein, verflucht von den Göttern und verstoßen von ihren Familien. Als Unglückbringerinnen geächtet, stehen sie außerhalb jeder Gemeinschaft.

In diesem Jahr 2007  lerne ich Patchemal kennen. Sie besitzt nichts außer ihrer Kleidung, sitzt in einer kleinen Gasse vor einem fremden Haus und bettelt. Ihre Knie sind so kaputt, dass sie nicht mehr gehen kann. Wenn sie ihre Notdurft verrichten muß, kriecht sie auf Händen und Knien den Berg hoch, wo sich auf einer Fläche von ca. 50 m² zwischen Büschen und kleinen Bäumen der Müll und die Fäkalien des ganzen Stadtteils angesammelt haben. Nachts schläft sie da, wo sie tagsüber sitzt. Die Bewohner des Hauses gegenüber (Frau und Tochter) reagieren neugierig und positiv auf mein Interesse an Patchemal und laden mich zu einem Schwätzchen auf einer kleinen Steinbank vor der Haustüre ein. Sie erzählen mir mit Händen und Füßen und mit ganz wenigen englischen Worten, dass Patchemal seit Jahren gegenüber ihres Hauses sitzt und auch auf diesem Platz schläft. In der Regenzeit darf sie auf ihrer Steinbank schlafen, da diese durch einen kleinen Dachvorsprung geschützt ist. Von der Kälte und Feuchtigkeit in diesen Zeiten sprechen wir nicht. Patchemal hat angeblich niemanden, d.h. sie wissen von niemandem.

Mittlerweile sehe ich „Patchemal“s überall in den Straßen. Ich will mit ihnen sprechen, aber jeder weigert sich, für mich zu übersetzen. Mein Kaufmann warnt mich: “Das sind böse Frauen, irre und schlecht, mit denen redet `man´ nicht! Gib ihnen eine Rupie, das ist alles!” Andere wenden sich einfach ab, wenn ich sie bitte, zu übersetzen.

Auf meiner Suche nach Hilfe finde ich den deutschen Ashram Shanthimalai und die von ihm gegründete Hilfsorganisation Shanthimalai Handicrafts Society.

Mein Wunsch, den obdachlosen Frauen zu helfen, wird hier von Dr. Werner von Herzen unterstützt.

Inzwischen habe ich im Internet recherchiert und verstehe, dass das Witwenproblem in Indien eine lange Geschichte hat. Bis vor 200 Jahren wurden Witwen mit dem Leichnam ihrer Männer bei lebendigem Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Seit 1986 ist Sati (Witwenverbrennung) offiziell verboten. Heute erleiden die Witwen den sozialen Tod.

“Verbrennung wäre besser für mich als dieses Leben”, sagte mir Lakshmi eine junge Witwe, die drei Kinder zu ernähren hat, unter Tränen.

Wir haben sie nicht allein gelassen, sondern deutsche Freundinnen haben für sie und ihre Kinder Geld gesammelt, sodass das Schulgeld und der Lebensunterhalt für das nächste Jahr gesichert waren. Heute ist Lakshmi “über den Berg”. Sie arbeitet als Ladenhilfe in einem Geschäft. Niemand darf wissen, daß sie eine Witwe ist.

 

Ich möchte dringend helfen.

Diese Frauen sind unsere Schwestern.

So viele Geschenke habe ich aus der Spiritualität Indiens erhalten, die ich gerne zurückgeben und teilen möchte.